Nicht nur Ketoazidose

Ein Tropffen Blut wird in ein Laborgefäß getropft. Er reicht, um einen Typ-1-Diabetes zu erkennen, bevor Symptome einsetzen.
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Die langjährigen Studien Fr1da und Fr1dolin zeigen: Eine Früherkennung des Typ-1-Diabetes ist möglich. Forschende haben Tests entwickelt, die einen asymptomatischen Prädiabetes verlässlich anzeigen und ein Risiko für die Erkrankung ergeben. Fachleute aus Medizin und Ethik diskutieren, ob der Test zum bevölkerungsweiten Screening eingesetzt werden soll. Die Perspektive der Betroffenen blenden sie dabei nicht selten einfach aus. Wir stellen hier einige der Argumente auf den Prüfstand.

„Ein Screening ist nur sinnvoll, wenn die entdeckte Erkrankung auch heilbar ist.“

Seit bald 20 Jahren werden Neugeborene auf angeborene Stoffwechseldefekte, endokrine Störungen und Immundefekte untersucht (Neugeborenenscreening), von denen viele nicht heilbar sind. Das Argument für den Screen ist auch hier: Eine frühzeitige Behandlung kann die Auswirkungen der Erkrankung vermeiden oder zumindest vermindern. Prof. Peter Achenbach, der stellvertretende Direktor des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz-Zentrum München, erklärt in einem Podcast der Helmholtz Gemeinschaft: „Wenn man Typ-1-Diabetes früh erkennt und früh behandelt, hat man eine bessere Restfunktion der Beta-Zellen und die Langzeit-Blutzuckereinstellung wird sich auf viele Jahre verbessern.“ So entstehen weniger Folgeerkrankungen. Das senkt nicht nur die volkswirtschaftlichen Kosten für die Erkrankung, es entlastet vor allem die Betroffenen und ihre Angehörigen. Dass eine bessere Restfunktion der Beta-Zellen zum Zeitpunkt der Diagnose das Risiko für Folgeerkrankung senke, sei wissenschaftlich gut belegt, erläutert der Forscher.

„Die frühe Erkennung kann eine schwere Ketoazidose beim Auftreten der Krankheit verhindern.“

Eine schwere Stoffwechselentgleisung bis hin zur Ketoazidose, die unter Umständen intensivmedizinisch behandelt werden muss, ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein traumatische Ereignis. Es liegt auf der Hand, anzunehmen, dass Familien, denen das Risiko bekannt ist, die Anzeichen der einsetzenden Krankheit früher erkennen werden. „Die Fr1daStudien hat neue Evidenz geschaffen, dass Notfallsituationen bei klinischer Manifestation drastisch vermindert werden“, sagt Prof. Achenbach. Darüber hinaus geht es aber um mehr: Wie der Experte darlegt, verbessern sich die langfristigen Aussichten von Menschen mit Typ-1-Diabetes auf ein langes gesundes Leben, wenn die Diagnose frühzeitig gestellt wird. 

Etwas anders sieht es die Kinderärztin Dr. Beate Karges, die am Universitätsklinikum Aachen dazu geforscht hat. Ob das Screening die Ketoazidoserate tatsächlich senken könne, sei bisher nicht statistisch belegt. Ihre Studien zeigen zudem, dass der HbA1c Wert von Menschen, die zu Beginn der Erkrankung eine Ketoazidose erlitten, sich nach zwei bis zehn Jahren dem von Menschen ohne Ketoazidose angleicht. Daraus folgert sie: Es gibt keine langfristigen Vorteile der Vermeidung einer Ketoazidose auf die glykämische Kontrolle der Betroffenen. Auch ob das bevölkerungsweite Screenings kosteneffizient sei, sei daher zu hinterfragen.

„Wir brauchen Aufklärung, kein Screening.“

Aufklärung, die sich etwa an die Eltern von Schulkindern richte, könne die Ketoazidoserate unter Typ-1-Diabetikern senken, erklärt Beate Karges. Aufklärung darf sich nicht allein an Eltern und Familien richten. Die Verantwortung, einen Diabetes medizinisch zu diagnostizieren, darf nicht auf sie abgewälzt werden! Viele Eltern grämen sich und fühlen sich schuldig, weil sie ihrem Kind nicht früher helfen konnten. Dabei haben sie nicht selten einen oder mehrere Arztbesuche hinter sich, bei denen die Erkrankung nicht erkannt wurde. Im Fokus der Aufklärung über das Erscheinunsbild eines sich manifestierenden Typ-1-Diabetes müssen also weiterhin Kinder- und Allgemeinärztinnen und -ärzte stehen! Um die Folgen der unheilbaren Erkrankung für alle Betroffenen zu lindern, braucht es Aufklärung UND möglichst frühe Diagnosen in allen Fällen.

„Die Familien dürfen mit den Testergebnissen nicht allein gelassen werden.“

Kinderärztin Beate Karges argumentiert: „Ein positives Testergebnis erfordert ein Nachsorgeprotokoll.“ Dazu gehört, dass Familien über das Erscheinungsbild eines einsetzenden Diabetes aufgeklärt und in ihrem Verhalten geschult werden. In der Fr1da Studie übernahmen diese Aufgaben beteiligte Mediziner:innen – doch wer kann die Beratung übernehmen, wenn das Screening Teil der regelhaften Vorsorge wird? Kann man den Mangel an Beratungsangeboten also als Argument gegen die Früherkennung benutzen? Sinnvoller wäre es, jetzt darüber nachzudenken, wo wir die Ressourcen für die notwendige Beratung, Unterstützung und Schulung der Familien hernehmen, in denen einen Fall von frühem oder Prädiabetes erkannt wird.

Betroffene sind gefragt!
Unsere Vorsitzende Sandra Schneller vertritt im G-BA die Interessen aller von Diabetes Betroffenen Menschen in Deutschland. Wir machen uns dafür stark, dass der Früherkennungstest flächendeckend in der Regelversorgung zum Einsatz kommt. Dafür sammeln wir Eure Stimmen!

Wie war der Moment der Diagnose für Euch, Eure Kinder, Eure Eltern? Was wäre besser gelaufen, wenn Ihr Euer Risiko gekannt hättet?

Schreibt uns an frueherkennung@diabetikerbund.de – wir freuen uns auf Eure Mails!ls!

„Diabetes ist sehr gut behandelbar. Und die Technologie verbessert die Therapieergebnisse.“

Mediziner:innen argumentieren aus fachlicher Sicht häufig, ein Diabetes sei doch gut behandelbar. Das kann in den Ohren betroffener Menschen und ihrer Angehörigen geradezu zynisch klingen: Denn es lässt völlig außer Acht, wer für die Behandlung federführend und verantwortlich und rund um die Uhr im Einsatz ist. Das aufwendige Management der Stoffwechsstörung liegt bei den Betroffenen selbst. Bei Kindern sind es die Eltern, die 24/7 einsatzbereit sind, sich die Nächte um die Ohren schlagen und nicht selten beruflich deutlich zurückstecken, um ihr Kind mit Diabetes betreuen zu können. „Ich hatte mich kurz vor der Erkrankung meiner Tochter selbstständig gemacht und es lief gerade richtig gut“, erzählt zum Beispiel Maren Sturny. Als ihre Tochter die Diagnose Typ-1-Diabetes erhielt, konnte sie von einem Tag auf den anderen quasi gar nicht mehr arbeiten. Hinter dem Management eine Diabetes stecken also nicht nur Fragen der Lebensqualität und persönlicher Ressourcen der Beteiligten. Es kann auch zu handfesten Volks- und Familienwirtschaftlichen Einschnitten führen.
Den Diabetes zu erkennen, noch bevor sich Symptome einstellen, geschweige denn, schwere Entgleisungen auftreten, gibt den Familien Zeit. Zeit sich zu informieren und beraten zu lassen. Zeit das Management so in die Hand zu nehmen, dass der Stoffwechsel dauerhaft möglichst gut eingestellt ist. Zeit und Lebensqualität.

Quellen:
Symposium der Deutschen Diabetes Gesellschaft während der Jahrestagung 2023;
Podcast der Helmholtz-Gemeinschaft mit Peter Achenbach und Maren Sturny, https://resonator-podcast.de/2023/res194-diabetes-typ-1-bei-kindern/
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 10: Ketoazidose vermeiden

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