Müdigkeit, Übelkeit, quälender Durst – oft werden die Anzeichen eines Typ-1-Diabetes bei Kindern oder jungen Erwachsenen nicht erkannt. Dann kommt es zu schweren Stoffwechselentgleisungen, bevor die Betroffenen die richtige Diagnose bekommen und ihnen eine angemessene Behandlung zuteil wird. Sie und ihre Angehörigen leiden nicht nur unter den dramatischen Umständen der Diagnose, es dauert auch sehr lange, bis das Management der Erkrankung sich eingespielt hat. Jüngere Kinder gehen oft monatelang nicht in den Kindergarten, Eltern sind extrem gefordert, ganze Familienleben werden umgekrempelt.
Früherkennung in der Regelversorgung
Wissenschaftler am Münchner Helmholtz-Forschungszentrum (Helmholtz Munich) haben einen Labortest entwickelt, der ein erhöhtes Risiko für Typ-1-Diabetes bei Kindern schon lange vor dem Ausbruch der Krankheit anzeigen kann. In England und Italien gibt es bereits Gesetzentwürfe, vergleichbare Tests flächendeckend in der medizinischen Vorsorge bei Kindern zu integrieren. Ob der Frühtest in Deutschland in die Regelversorgung kommt und beispielsweise im Rahmen der Kinder- und Jugendvorsorge eingesetzt wird, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA.
Warten auf Teplizumab?
Ende 2022 wurde nun in den USA ein Präparat zugelassen, dass den Ausbruch von Symptomen bei Typ-1-Diabetes verzögern kann. Der Antikörper ‘Teplizumab’ schützt die Betazellen der Bauchspeicheldrüse vor der Zerstörung durch das körpereigene Abwehrsystem. Die US-Zulassung des Präparates gibt den Verfechtern der Früherkennung ein zusätzliches starkes Argument: Ist die Veranlagung für ein Typ-1-Diabetes bekannt, kann die Gabe von Teplizumab den Betroffenen Monate bis Jahre wertvoller symptomfreier Lebenszeit verschaffen. Sollen wir nun aber warten, bis das Medikament auch in Europa zugelassen ist, um die Früherkennung für alle zu rechtfertigen?
Zudem ist die Anwendung auch unter Diabetes-Experten nicht ganz unumstritten: „Ist der Einsatz von Teplizumab zur Krankheitsverzögerung ein Gewinn, wenn wir dafür den Einsatz einer Immunintervention mit möglichen Nebenwirkungen bei einem noch gesunden Kind in Kauf nehmen müssen?“, fragt etwa die Deutsche Diabetes Gesellschaft DDG in einer Pressemeldung zur Chancen und Risiken des Diabestesscreening.
Ja zur Früherkennung jetzt
Wir meinen: Unabhängig von Teplizumab gibt es gute Gründe für die Früherkennung! Wir sollten nicht auf die europäische Zulassung für Teplizumab warten, um die Früherkennung in die Regelversorgung zu bringen.
Gute Gründe dafür
Das eigenen Risiko – bzw. das der Kinder – vor dem Ausbruch von Symptomen zu kennen, hilft Betroffenen und ihren Familien in vieler Hinsicht. Es bewahrt sie vor dem Schock der Diagnose ‘aus dem Nichts’. Sie haben Zeit und Gelegenheit, sich zu informieren und auf das Management der Erkrankung einzustellen. Eltern und Betreuungspersonen können entsprechend geschult werden. Und es kann die extremen Stoffwechselentgleisungen und starken Schwankungen verhindern, die sich langfristig negativ auf die Gesundheit der Betroffenen niederschlagen. „Viele Daten zeigen, dass die Vermeidung dieser Entgleisungen wirklich langfristige Vorteile bringt“, sagt Professorin Dr. Anette-Gabriele Ziegler, die Direktorin des Instituts für Diabetesforschung bei Helmholtz Munich. „Der Stoffwechsel ist dann langfristig besser eingestellt und mit der Insulinbehandlung können wir eine Restfunktion der Betazellen erhalten. Kinder und Erwachsene profitieren mit Blick auf spätere Folgeerkrankungen.“
Langfristig länger gesund
So sind auch für ökonomisch argumentierende Fachleute die Vorteile der frühen Diagnose ersichtlich: Sie kann die aufwendige Versorgung auf Intensivstationen ersparen, die zu spät diagnostizierte Typ-1-Diabetiker oft brauchen. Notwendige Krankenhausaufenthalte werden reduziert und langfristig ein längeres gesundes Leben begünstigt. Langzeitschäden an Organen etwa, die später ein Transplantation nötig machen, können durch frühzeitiges Management der Erkrankung verringert oder vermieden werden.